
Stell dir vor, du hast endlich das erreicht, wovon du so lange geträumt hast. Die Ketten sind gesprengt, die Unterdrückung ist vorbei. Du bist frei! Das ist der Moment, in dem die Geschichte von Exodus ihren Höhepunkt zu erreichen scheint: Das Rote Meer hat sich geteilt, die Israeliten sind hindurchgegangen, und die ägyptische Armee, die sie verfolgte, ist in den Fluten untergegangen. Ein monumentales Wunder! Das Volk singt ein Siegeslied, voller Freude und Dankbarkeit. Endlich, endlich sind sie frei.
Doch diese Freiheit kommt mit einem Preis: Sie sind in der Wüste. Und die Wüste ist karg. Sie bietet keine Fleischtöpfe Ägyptens, keine bequemen Häuser, keine vertrauten Routinen. Stattdessen gibt es Sand, Hitze und Durst. Die euphorische Freude schlägt schnell in Klage um. Sie murren gegen Mose und gegen Gott. Sie sehnen sich zurück – zurück nach Ägypten, in die Sklaverei. „Wären wir doch in Ägypten gestorben!“, schreien sie. „Dort hatten wir immerhin zu essen!“
Die Paradoxie der Sehnsucht nach Knechtschaft
Diese Reaktion mag uns zunächst befremden. Wie kann man sich die Knechtschaft zurückwünschen, nachdem man so spektakulär befreit wurde? Aber wenn wir ehrlich sind, ist diese menschliche Tendenz in uns allen zu finden. Wir klammern uns oft an das Vertraute, selbst wenn es uns schadet. Die Sklaverei in Ägypten war brutal, aber sie war berechenbar. Die Wüste war Freiheit, aber sie war ungewiss.
Diese Geschichte lädt uns ein, uns selbst zu fragen: Was sind die „Ägypten“ in unserem Leben, nach denen wir uns manchmal zurücksehnen, obwohl sie uns gefangen halten? Ist es eine alte Gewohnheit, die uns vermeintliche Sicherheit gibt, aber uns von wahrem Wachstum abhält? Ist es die Komfortzone, die uns davon abhält, mutige Schritte im Glauben zu gehen? Ist es die Angst vor dem Unbekannten, die uns an vertrauten, aber ungesunden Mustern festhalten lässt?
Das Volk Israel musste in der Wüste eine neue Identität lernen. Sie waren nicht mehr die Sklaven des Pharao. Sie waren das Volk Gottes. Aber diese neue Identität musste sich erst in ihren Herzen und ihrem Verhalten festsetzen. Sie mussten lernen, dass wahre Freiheit nicht nur das Fehlen von Ketten ist, sondern auch das Lernen, auf Gott zu vertrauen, der sie führt und versorgt.
Die Wüste als Klassenzimmer der Identität
Die Wüste war für die Israeliten nicht nur ein Ort des Mangels, sondern auch ein Ort der Transformation. Ein Klassenzimmer Gottes, in dem er ihnen Lektionen erteilte, die sie im Überfluss Ägyptens niemals gelernt hätten. Sie mussten lernen, nicht auf ihre eigenen Ressourcen zu vertrauen, sondern allein auf Gott. Sie mussten lernen, geduldig zu sein und zu warten. Sie mussten lernen, ihre Klagen in Vertrauen zu verwandeln.
Für mich persönlich ist das eine ständige Herausforderung. Ich kann mich mit den Israeliten identifizieren, die sich nach den „Fleischtöpfen“ sehnten. Manchmal sehne ich mich nach einer einfacheren Zeit, nach weniger Verantwortung, nach vertrauten, bequemen Mustern, auch wenn ich weiß, dass sie mich nicht wirklich weiterbringen. Die Geschichte ermutigt mich dazu, meine neue Identität in Christus festzuhalten. Ich bin nicht mehr die, die ich einmal war. Ich bin befreit, geliebt und von Gott erwählt. Aber diese Wahrheit muss in meinem Alltag sichtbar werden.
Es ist ein Prozess. Die Wüste ist nicht nur ein geografischer Ort; sie ist auch ein Lebensabschnitt, in dem wir uns befinden können, wenn wir uns von alten Identitäten lösen und in eine neue hineinwachsen. Es ist ein Ort der Läuterung, an dem alles Überflüssige weggenommen wird, damit das Wesentliche sichtbar wird. Und das Wesentliche ist unsere Beziehung zu Gott.
Freiheit erfordert Vertrauen
Die wahre Freiheit liegt nicht darin, dass alle Schwierigkeiten verschwinden, sondern darin, dass wir inmitten der Schwierigkeiten auf Gott vertrauen können. Es bedeutet, die Klagen beiseitezulegen und uns an seine Verheißungen zu klammern. Die Israeliten waren frei, aber sie mussten lernen, als Freie zu leben. Das bedeutete, von der Sklavenmentalität Abschied zu nehmen und eine Mentalität des Vertrauens und der Abhängigkeit von Gott zu entwickeln.
Diese Geschichte hat uns nicht nur eine alte Erzählung erzählt, sondern uns auch einen Spiegel vorgehalten. Sie hat uns gefragt: Welche neuen Identitäten schenkt uns Gott in Christus, die wir noch nicht ganz angenommen haben? Wo halten wir noch an den „Fleischtöpfen Ägyptens“ fest, obwohl Gott uns in die Freiheit gerufen hat? Die Reise geht weiter, und die Wüste ist ein Teil davon. Aber in dieser Wüste lernen wir, wer wir wirklich sind – nicht durch unsere eigenen Anstrengungen, sondern durch Gottes treue Führung und Versorgung. Sind wir bereit, die Unannehmlichkeiten der Freiheit in Kauf zu nehmen, um die neue Identität zu leben, die Gott uns geschenkt hat? Die nächste Station wird uns zeigen, wie Gott genau das tut: Er versorgt sie in der Wüste, Tag für Tag, auf eine erstaunliche Weise.

















